Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte billigt nachträgliche Sicherungsverwahrung
(wd). Ein Sexualstraftäter in Deutschland hatte gegen die rückwirkende Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung geklagt und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wies die Beschwerde zurück. Nach dem Urteil des EGMR kann Sicherungsverwahrung in Altfällen über die früher geltende Höchstgrenze von 10 Jahren nachträglich bestehen bleiben, wenn dies der „therapeutischen Behandlung“ des Täters dient, so das Urteil des EGMR. Die Richter waren der Meinung, dass die rückwirkend verlängerte Sicherungsverwahrung eines Straftäters zulässig sei angesichts seiner psychischen Krankheit und Behandlung in einer geeigneten Einrichtung. Damit scheiterte die Klage eines 72-jährigen Sexualstraftäters (Beschwerde Nr. 23279/149). Mit diesem Urteil wurde die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Auslegung des Therapieunterbringungsgesetzes von 2013 bestätigt. Anlass für diese Regelung war ein vorheriges Urteil des EGMR: dieser hatte 2009 die mögliche nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über das damals geltende Höchstmaß von 10 Jahren als unzulässige „Strafe ohne Gesetz“ verworfen. Deshalb waren zahlreiche Straftäter freigelassen worden. Das daraufhin von der Bundesregierung erlassene Therapieunterbringungsgesetz sieht vor, dass Altfälle allerdings weiter in Sicherungsverwahrung bleiben, wenn die Gefährlichkeit der Häftlinge auf eine „psychische Störung“ zurückgeht. Das Bundesverfassungsgericht forderte daraufhin, dass im Einzelfall geprüft werden muss, ob bei den Betroffenen konkret die „hochgradige Gefahr“ besteht, dass sie weiter „schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten“ begehen. Sie müssten dann aber mit entsprechenden Therapieangeboten in geeigneten Einrichtungen untergebracht werden. Bei dem o. g. Kläger, der sich seit 1986 im Gefängnis befindet, ist dies offensichtlich der Fall. Der EGMR verwies deshalb auf zwei Gutachten, wonach ein hohes Risiko besteht, dass der Kläger vor allem unter Alkoholeinfluss wieder pädophile Straftaten begehen könnte. Weiter heißt es in dem Straßburger Urteil, dass sich die Unterbringung in Sicherungsverwahrung seit der Reform deutlich vom regulären Strafvollzug unterscheide. Straftäter würden in einer Einrichtung mit individuellen Apartments untergebracht und hätten Zugang zu weitreichenden Therapieangeboten.[1]
Kommentar von Rudi Merod
Diese Nachricht hat bei mir zwei unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen, die beide fachlich begründbar und nachvollziehbar sind.
Zunächst geht es bei der Entscheidung zur nachträglichen Sicherheitsverwahrung darum, dass es mit diesem Urteil auch weiterhin möglich sein wird, Menschen, die aufgrund von psychischen Problemen auf Dauer gefährlich sind, so zu verwahren, dass sie für die Allgemeinheit keine Bedrohung mehr darstellen. In Bezug auf die Entscheidung ist mir jedoch nicht bekannt, ob der aktuelle Stand der internationalen Forschung berücksichtigt worden ist; dieser sollte zumindest in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass manche Personen eine deutlich längere Behandlungszeit benötigen, es aber auch diejenigen Störungsbilder gibt, bei denen Psychotherapie nicht wirkt.
Der aktuelle internationale Stand der Forschung besagt, dass Menschen mit einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung vom psychopathischen Typus“, wenn sie Straftaten im Sinne von Gewalt- oder Sexualstraftaten begangen haben, psychotherapeutisch nicht behandelbar sind und das unabhängig von der Art der Psychotherapie. Hintergrund für diese wissenschaftlichen Ergebnisse ist, dass diese Menschen eine mangelnde Funktionsfähigkeit eines Hirnareals (dem Frontallappen) haben, welcher für die Steuerung von Empfindungen (z.B. Angst, Empathie) und Impulsen zuständig ist. So bedauerlich das auch ist: Bei diesen Menschen gibt es bisher keine psychotherapeutischen Möglichkeiten, dieses Problem durch eine Psychotherapie zu beheben und damit die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen.
An dieser Stelle kommt für mich nun der zweite relevante Punkt in diesem Themenkomplex: Wie ist es zu gewährleisten, dass nur diejenigen Personen einer Sicherheitsverwahrung zugeführt werden, bei denen eine psychotherapeutische Behandlung nicht möglich ist? Die Frage, die für beide Seiten von höchster Relevanz ist, ob gewährleistet werden kann, dass die von den Gerichten bestellten Gutachter tatsächlich fachlich und nachweislich so qualifiziert sind, dass ein relativ hohes Maß an Sicherheit gegeben ist, dass diese diagnostische Einschätzung valide ist. Leider gibt es bisher keine verbindlichen Qualitätsmaßstäbe für gerichtlich bestellte Gutachten, weder für deren Ausbildung noch für deren (regelmäßige) Fortbildung.
Gerade bei der Frage einer Sicherheitsverwahrung muss im Interesse des Betroffenen aber auch im Interesse der Allgemeinheit unbedingt gewährleistet sein, dass die Begutachtung als Basis der richterlichen Entscheidung auf fachlich höchstem Niveau erfolgt. Meine Hoffnung ist, dass beide von mir benannten Bedingungen schnell auf politischer Ebene umgesetzt werden.
[1]Quelle: Der Tagesspiegel vom 07.01.2016
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