7. DGVT-Interview mit Bernhard Scholten
geführt am 15. April 2019 in Landau von Steffen Fliegel
Der DGVT-Vorstand hat beschlossen, in loser Reihenfolge Interviews mit frühen Förderern des Verbandes und der Verhaltenstherapie zu führen. Damit sollen zum einen lange und einflussnehmende Mitgliedschaften gewertschätzt werden. Zum anderen sollen aber die heutigen Mitglieder mehr über die Historie, die Wurzeln und die zum Teil sehr spannungsgeladenen Entwicklungslinien der DGVT erfahren.
STEFFEN FLIEGEL wurde vom Vorstand gebeten, die Gespräche zu führen und zu dokumentieren. Im ersten Gespräch kamen Peter Gottwald und Dietmar Schulte zu Wort (VPP 4/2010), das zweite Gespräch galt Eva Jaeggi und Jarg Bergold (VPP 1/2012), das dritte Heiner Keupp und Christoph Kraiker (VPP 1/2014), das vierte Dieter Kleiber (VPP 3/2014), das fünfte SYBILLE KRÄMER (VPP 1/2018), das sechste ARMIN KUHR (VPP 2/2018).
Der Abdruck des sechsten Interviews folgt heute mit BERNHARD SCHOLTEN.
Steffen Fliegel: Lieber Bernhard, hier sitzen zwei Menschen zusammen, die die DGVT in ihrer ganzen langen Zeit begleitet und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beobachtet haben. Ich würde gerne heute mit dir darüber reden, wie du die Anfänge der DGVT erlebt und seit wann du sie erlebt hast. Was denkst du über die Entwicklung der Verhaltenstherapie innerhalb und außerhalb der DGVT, wie siehst du die Ziele, die sich die DGVT in ihrer Satzung gesetzt hat, erfüllt. Und ich möchte mit dir sprechen über die derzeitige politische Szenerie, die sich ja zu früher hin immens verändert hat. Ich freue mich, mir mit dir verschiedene Etappen gemeinsam anzuschauen, denn in diesem Interview geht es vor allem um eins, nämlich um dich. Danke, dass du dir Zeit genommen hast für das Gespräch. Denn obwohl du offiziell im Ruhestand bist, treiben dich immer noch verschiedene Aktivitäten um.
Bernhard Scholten: Ach, ich habe schon Zeit, ist schon in Ordnung. Ich habe mir in Vorbereitung auf dieses Gespräch einige Interviews angeschaut, die du in den letzten Jahren geführt hast. Und bei einem, nämlich dem mit Klaus Dörner, bin ich steckengeblieben. Klaus Dörner hat in seinem Interview gesagt, dass es Situationen gibt, die man zwar gedanklich vorplanen kann, wie zum Beispiel einen neuen Lebensabschnitt, aber wenn man dann in dieser Situation ist, ist es doch ganz anders, als man es sich vorher vorgestellt hat. Und das habe ich auch gemerkt. Als ich in Pension gegangen bin, hatte ich mir schon Einiges vorgenommen, was ich machen will und was nicht. Nach den ersten Wochen Urlaub, Freizeit und Ausspannen habe ich gespürt, ich muss mir den Tag selbst strukturieren, muss mir selbst Aufgaben setzen, und das war gar nicht so einfach.
Steffen Fliegel: Jetzt bin ich gespannt, was bei der Strukturierung heraus gekommen ist. Ich habe dich ja immer als recht emsigen und umtriebigen Kollegen und Freund erlebt.
Bernhard Scholten: Ich habe eine alte Leidenschaft wieder entwickelt: ich arbeite als freier Mitarbeiter bei der RHEINPFALZ. Als Student habe ich eine Zeit lang bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gearbeitet denn damals überlegte ich, ob ich nach dem Studium journalistisch arbeiten soll. Meine ersten beiden Stellenangebote waren bei der Associated Press, die ich abgelehnt habe, und bei der Pfalzklinik Landeck, die ich angenommen habe, weil ich mich für die Psychologie und gegen den Journalismus entschieden hatte.
Steffen Fliegel: Jetzt verstehe ich, warum du bei den DGVT-Kongressen immer den Pressesprecher gemacht hattest.
Bernhard Scholten: Genau. Letztlich war mir damals dann doch die Klinische Psychologie näher. Aber jetzt arbeite ich lebe ich meinen zweiten Wunsch: . ich schreibe keine Riesengeschichten, sondern kleinere Artikel. In diesem Frühjahr habe eine kleine Serie über die Beauftragten der Stadt geschrieben. In dieser Serie wird dargestellt, was die Seniorenbeauftragte, der Behindertenbeauftragte, die Jugendbeauftragte, die Migrationsbeauftragte, der Beauftragte für Bürgerbeteiligung und die Frauenbeauftragte an Aufgaben haben. Und dann habe ich lange überlegt, ob ich in dem Bereich, wo ich jetzt über 30 Jahre gearbeitet habe, weitermachen will oder nicht.
Steffen Fliegel: Wir kommen gleich noch auf deine Arbeit zu sprechen, lass uns noch einen Moment bei der Gegenwart bleiben. Ich habe in der Vorbereitung noch etwas von der Katharinenkapelle gelesen.
Bernhard Scholten: Ja, nach der Pensionierung hatte ich überlegt, im sozialpolitischen Bereich nicht weiter aktiv zu sein, sondern mich auf andere Themen zu konzentrieren, wie zum Beispiel auf die freie Mitarbeit bei der Rheinpfalz-Zeitung oder auf mein Engagement im Förderverein Katharinenkapelle hier in Landau……
Steffen Fliegel: …. wo es um die Sanierung dieser im 14. Jahrhundert erbauten kleinen Kirche in Landau geht, wie ich gelesen habe. Warum reizt dich diese Aufgabe?
Bernhard Scholten: Vielleicht erinnerst du dich noch, dass ich neben Psychologie auch Geschichte studiert habe. Mich reizt es, zu erfahren, wie „Dinge“ geworden sind. Dieses „Historikerherz“ war ausschlaggebend dafür, dass ich gemeinsam mit anderen 2002 den Förderverein Katharinenkapelle gegründet habe. Die Katharinenkapelle steht im ältesten Teil von Landau – gleich neben dem Frank-Loebschen Haus und dem Alten Kaufhaus. Anna Franks Familie stammt ursprünglich aus Landau, das Frank-Loebsche-Haus erinnert an die wechselvolle Geschichte der Landauer Juden. Die Katharinenkapelle steht am Anfang der ehemaligen Judengasse Landaus. Im Chorraum gibt es Wandmalereien von 1350, die zeigen, wie Jesus von Männern, die Judenhütte tragen, verhaftet, gegeißelt und ans Kreuz geschlagen wird. Es sind die ältesten anti-judaistischen Darstellungen. Das ist kein Zufall: die Katharinenkapelle wurde 1344 gebaut, 1350 brach die große Pest aus und in deren Folge kam es zu den ersten Judenpogromen in Mitteleuropa. Im benachbarten Frank-Loebsche-Haus wurden im Oktober 1940 die jüdische Bevölkerung Landaus für den Abtransport in das Lager Gurs gesammelt. Wir wollen als Förderverein die Kapelle sanieren, auch um diese Entwicklungsprozesse nachvollziehbar und lebendig werden zu lassen. Letztlich warnt uns die Katharinenkapelle: „Wehret den Anfängen!“.
Steffen Fliegel: Kommen wir jetzt einmal auf die DGVT zu sprechen. Bist du deinen eigenen Vorsätzen, in den Ruhestand zu wechseln, nicht untreu geworden, wenn du seit einiger Zeit in der DGVT-Fachgruppe Psychosoziale Versorgung mitarbeitest?
Bernhard Scholten: Karin, meine Frau, meint, ich sollte das in der beruflichen Arbeit erworbene Wissen den nachfolgenden Kolleginnen und Kollegen auch zur Verfügung stellen und nicht nur einfach das zur Seite legen. Diese Diskussionen mit ihr haben mich schwankend gemacht und bereit, meine Erfahrungen und vielleicht auch meine Kontakte einzubringen.
Steffen Fliegel: Du hast ja eine ganz lange Tradition in der DGVT, auf die wir auch noch zu sprechen kommen werden. Viele, die ja quasi von Anfang bei der DGVT dabei sind, sind ja entweder dann im Hochschulbereich gelandet oder geblieben oder sind in die psychotherapeutische Versorgung gegangen, haben sich niedergelassen oder in Kliniken gearbeitet. Du hast ja letztendlich einen ganz anderen Weg beschritten, bei dem du ja auch den inhaltlichen Positionen der DGVT treu geblieben bist, bei dem du dich um die psychosoziale und psychiatrische Versorgung gekümmert hast. Auch dazu gleich mehr. Lass uns zu zunächst einmal auf die DGVT zu sprechen kommen. Du hast ja im Verband verschiedene Funktionen wahrgenommen…
Bernhard Scholten: …also ich kenne die DGVT solange, wie ich dich kenne. Damals, als ich in Bochum studiert habe, gab es ja noch die GVT, die Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapie,. Das war 1975. Ich habe als studentische Kraft in der GVT-Geschäftsstelle gearbeitet, die damals am Psychologischen Institut in einem Raum angesiedelt war. Du hattest damals Mitarbeiter gesucht. Und da ich bei dir schon studentische Hilfskraft war, habe ich das halt auch gemacht. So wurde ich dann 1976 Protokollant der DGVT-Gründungsmitgliederversammlung . Die DGVT-Geschäftsstelle blieb noch eine Zeit lang in Bochum. Bei der Vorbereitung des DGVT-Kongresses in Hamburg, habe ich die Pressearbeit für den Kongress und die die DGVT gemacht. Ich hatte dann einen Arbeitsvertrag als Pressesprecher der DGVT logisch, dass ich auch DGVT-Mitglied geworden bin. Auch als die DGVT-Geschäftsstelle nach Tübingen wechselte, habe ich weiter Pressearbeit für die DGVT gemacht.
Steffen Fliegel: Und dabei hast du mich ja intensiv begleitet bzw. mich in die Presse lanciert.
Bernhard Scholten: Du warst Vorstandsmitglied, und ich kann mich noch gut erinnern, wie du dann im WDR-Mittagsmagazin aufgetreten bist, oder auch mal im Deutschlandfunk. Morgens um 6 sind wir mal zum Studio Dortmund gefahren und haben dann irgendwelche Interviews gemacht, in den wir für die Verbesserung der psychosoziale und psychiatrische Versorgung geworben haben. Du bist ja dann irgendwann über lange Zeit der WDR-Psychologe geworden.
Steffen Fliegel: Und irgendwann hast du mich im DGVT-Vorstand abgelöst.
Bernhard Scholten: Ich war über die Pressearbeit auch Mitglieder in der Kongressplanungsgruppe. , 1980 und 1982 waren die beiden gemeinsamen Kongresse von DGVT und GwG (Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie). Der 1980er-Kongress hatte keinen Titel, und der 1982er-Kongress war der Gemeindepsychologische-Perspektiven-Kongress. Ich wurde 1980 in den DGVT-Vorstand gewählt. Ich bin 1986 aus dem DGVT-Vorstand ausgeschieden, und war dann eigentlich bis zum letzten Kongress 2018 nur noch in der inhaltlichen Planungsgruppe der DGVT-Kongresse.
Steffen Fliegel: …und dort hattest du die eigentlich zentrale inhaltliche Bedeutung, mit der Schnittstelle Psychotherapie und Versorgung.
Bernhard Scholten: Und das war mir persönlich auch immer sehr wichtig, weil ich mich beruflich immer weiter weg von der Psychologie und Psychotherapie entwickelte. Über die Mitarbeit in den inhaltlichen Planungsgruppen und über die Kongresse selbst blieb ich zumindest über die aktuellen fachlichen und politischen Themen informiert. Wichtig für mich war es auch, Kontakte in die psychosoziale und psychotherapeutische „Szene“ zu haben.
Steffen Fliegel: Also Vorstand und Kongressplanung waren die Hauptaktivitäten. Es sind bis heute 44 Jahre, die du die DGVT begleitet hast. Wenn du mal zurückblickst auf die Zeit, als du begonnen hast in der DGVT oder ihrer Vorläuferin, was würdest du sagen, waren deine wichtigen Eindrücke über die DGVT damals in den ersten Jahren und was sind deine wichtigen Eindrücke von der DGVT, so wie du sie heute kennst?
Bernhard Scholten: Als ich Anfang 1972 begonnen habe, Psychologie zu studieren, war ich anfangs ziemlich angetan von der Psychoanalyse. Meine Freud-Lektüre als Abiturient war eine entscheidende Motivation für meine Studienwahl. So war ich die ersten zwei Jahre ein bisschen erschreckt über diese Psychologie mit ihrer Statistik, ihrer Methodenlehre und ihrer quantitativen Forschung. Doch in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse fiel mir zunehmend auf, dass die damals bekannten Psychoanalytiker vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, mit denen ich reden konnte, immer schon vorher wussten, warum man etwas getan hat. Ich kann mich noch an eine Veranstaltung – ich glaube es war 1974 in Duisburg – mit Clemens de Boor erinnern, in der De Boor über die Psychoanalyse referierte. In der anschließenden Diskussion habe ich eine Frage gestellt, die ich leider nicht mehr erinnere. Ich erinnere mich aber gut daran, dass de Boor nach meiner Auffassung diese Frage nicht beantwortet hatte, sondern er hat meine Frage in eine Gegenfrage umgewandelt und analysiert, warum ich ihm diese Frage gestellt habe. Das fand ich ziemlich nervig und ärgerlich. Bis dahin hatte ich die Psychoanalyse auch für ihre politische Analyse bewundert; aber an diesem Abend erlebte ich die Psychoanalyse als intransparent und eine Wissenschaft für Insider. Und dann hatte ich das Glück, in Bochum eine offene Verhaltenstherapie kennenzulernen. Sie war in meine Augen sehr transparent und klar. Sie begründete ihre Instrumentarien und Methoden. Die Selbstmodifikationsprogramme, wie sie damals hießen, halfen mir konkrete Verhaltensweisen zu verändern. Sie nahm die Klientinnen und Klienten ernst. Es war keine „Geheimwissenschaft“ sondern sie legte ihr Quellen und ihre Methoden offen. In den ersten Arbeitsgruppen, in denen ich mitgearbeitet habe, erprobten wir diese verhaltenstherapeutischen Methoden. Es waren eher Arbeitsgruppen, die auch psychiatrie- und psychotherapiekritisch kritisch waren.
Steffen Fliegel: Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppen haben wir dann ja sehr aktiv auch in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) wiedergefunden, die ja eng mit der DGVT kooperierte.
Bernhard Scholten: Genau, ich habe mich damals aber in der DGSP eigentlich nie heimisch gefühlt, weil sie sehr ärztelastig war, sehr medizinorientiert, sehr psychiatrisch. Die DGSP hatte zwar schon einen weiten Blick, sozialpsychiatrisch eben. Aber sie war und blieb sehr medizinisch für mich. Und die DGVT war die Gesellschaft, die einen psychologischen und weiterführend einen gemeindepsychologischen Blick hatte. Bei der DGVT hatte ich also zwei Anknüpfungspunkte: einmal den eher psychotherapeutischen, verhaltenstherapeutischen Ansatz und zweitens eine für mich wichtige Perspektive, die Entwicklung der psychosozialen, der psychiatrischen und der psychotherapeutischen Versorgung. Das war Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre und die ganzen 1980er Jahre hindurch. In den Neunzigern und in den Nullerjahren habe ich mich innerlich etwas weniger mit den DGVT-Themen beschäftigt, vielleicht inhaltlich auch ein bisschen distanziert.
Steffen Fliegel: Das ging ja damals doch mehreren Mitgliedern so, deshalb würde ich deine Gründe dafür gerne wissen.
Bernhard Scholten: Anfang der 80iger Jahre wollten wir als DGVT die psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung umkrempeln. Gemeinsam mit der DGSP wollten wir die großen psychiatrischen Anstalten abschaffen. Seit 1979 arbeitete ich in einer dieser großen Klinik. Dieser Reformeifer war spätestens mit dem Ende des großen Modellprogramms zur psychiatrischen Versorgung Ende 1986 zu Ende. Ich wurde 1986 Vorsitzender des DGSP-Landesverbandes Rheinland-Pfalz. Parallel dazu hatten wir in der Gewerkschaft ötv – anfangs noch mit Unterstützung der DGVT – ein Bündnis der Personalräte der großen Kliniken für eine Psychiatrie-Reform in Rheinland-Pfalz geschmiedet. Da waren einige Psychologinnen und Psychologen dabei, zum Beispiel Ise Thomas, die später Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im rheinland-pfälzischen Landtag wurde.1987 bin ich Personalratsvorsitzender geworden. Anfang der 90iger Jahre gelang es uns, auch die SPD in Rheinland-Pfalz für eine Reform der Psychiatrie zu gewinnen.
Die in der DGVT geführten Debatten um eine bessere Ausbildung, um ein gutes Psychotherapeutengesetz und die daran anknüpfenden Diskussionen, ob eine Psychotherapeutenkammer gebraucht wird und gegründet werden soll, passten nicht in diese rheinland-pfälzischen Entwicklungen. Berufspolitische Aspekte gewannen an Bedeutung. Wer macht da jetzt was, wie und wo, das war mir sehr fremd, und das fand ich bei der DGVT nicht sehr spannend. Ich fand eigentlich immer die inhaltlichen Debatten, die ja vor allem über die Kongresse oder andere Foren angestoßen wurden, sehr wichtig. Und dies hat die DGVT ja auch alles bewahrt, die Kontakte über den Arbeitskreis Soziale Psychiatrie im Paritätischen Wohlfahrtsverband, die Kontakte zur DGSP oder auch zu anderen Verbänden bis hin zu den Themen rund um Prävention.
Steffen Fliegel: Es hatte ja wohl auch einen Grund, dass dich dann doch mehr die psychiatrische Versorgung interessiert hat. So habe ich dich auch immer erlebt, dass du das fachliche psychologische und psychotherapeutische mit Versorgungsthemen verknüpft sehen wolltest.
Bernhard Scholten: Als ich nach einer beruflichen Zeit in der Psychiatrischen Klinik für die Aufgabe der Behindertenpolitik in Rheinland-Pfalz zuständig wurde, da wurde die DGVT auch genau an den Punkten wieder wichtig für mich. Ich habe dann mit einigen Kollegen, zum Beispiel Bernd Röhrle, Heiner Keupp oder Mike Sickinger, in Rheinland-Pfalz Fachtagungen organisiert, um die politischen Debatten in Rheinland-Pfalz fachlich vorzubereiten. Dabei habe ich sehr stark von dem sozialpolitischen Engagement und der Fachlichkeit der DGVT profitiert und natürlich auch ihren Netzwerken von der Beratung mit Frank Nestmann, über Fragen zum Kindeswohl mit Michael Borg-Laufs Monika Bormann oder Mike Seckinger bis hin zu den Versorgungsfragen.
Steffen Fliegel: In der Öffentlichkeit ist die DGVT mittlerweile sehr viel präsenter, was die Psychotherapiegesetzgebung oder auch Strömungen der Verhaltenstherapie, und weniger, was die psychiatrische, psychosoziale Versorgung angeht. Ich weiß nicht, inwieweit du in deinen beruflichen Kontexten mal auf die DGVT gestoßen bist, wenn du sie jetzt nicht gekannt hättest?
Bernhard Scholten: Also, das ist schwer zu beantworten, denn ich war ja nie im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit direkt für den Bereich der Psychotherapie zuständig. Ich habe gut zehn Jahre als Psychiatriereferent in der Gesundheitsabteilung im Sozialministerium Rheinland-Pfalz gearbeitet. Da habe ich natürlich Kontakte zu den Psychotherapeutenverbänden, besonders zu Andrea Benecke gehabt, die Vize-Präsidentin der Psychotherapeutenkammer in Rheinland-Pfalz ist. Diese Kontakte waren eigentlich immer an Themen wie Prävention, Gesundheitsförderung, Versorgung orientiert. Ich kann mich zum Beispiel an einen Kongress 20111 zum Thema Kindeswohlgefährdung erinnern, den wir ausgerichtet haben. Dort habe ich für mich ganz überraschend Monika Bormann, die ihre Expertise als Leiterin der Caritas-Beratungsstelle in Bochum eingebracht hat, getroffen. , . Ich war auch eine Zeit lang zuständig für die Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz und damit für die Landeszentrale für Gesundheitsförderung (LZG), die engen Kontakt zur niedersächsischen Landeszentrale für Gesundheitsförderung hat, und so ergab sich eine fachliche Zusammenarbeit mit Ute Sonntag. Alle drei – Andrea Benecke, Monika Bormann und Ute Sonntag - engagieren sich auch in der DGVT.
Steffen Fliegel: Das heißt, es gab einzelne Personen, die die DGVT in ihrer Entwicklung begleitet haben und die du dann in deinen beruflichen Kontexten getroffen hast? Ist dir auch die DGVT untergekommen, die sich laut Satzung für eine patientenorientierte psychosoziale Versorgung, als Verband einsetzt?
Bernhard Scholten: In Rheinland-Pfalz ist die DGVT als Verband nicht sehr stark. Das hat sicherlich damit zu tun, dass sich Anfang der 80iger Jahre in Bad Dürkheim der Fachverband Klinische Verhaltenstherapie gegründet hat. Dieser hat früh eine „VT-Ausbildung“ angeboten und hat somit der DGVT „das Wasser abgegraben“. So konnte die DGVT in Rheinland-Pfalz nicht so präsent sein. Natürlich wurden die DGVT-Stellungnahmen im Ministerium gelesen und auch diskutiert. Ich habe auch den einen oder anderen Termin für die DGVT eingefädelt, aber insgesamt muss ich selbstkritisch sagen, war die DGVT als Verband nicht präsent. . Auch wenn die Präsenz der DGVT als Verband in Rheinland-Pfalz eher klein war, so war sie doch indirekt durch Personen bei Anhörungen, Tagungen, Expertenrunden vertreten, die sich den Zielen der DGVT-Satzung verpflichtet fühlten, vertreten.
Ich bin nach 1986 nie mehr Funktionär bei der DGVT gewesen, trotzdem war die DGVT für mich immer so etwas wie meine fachliche Heimat. Und die DGVT-Kongresse waren für mich, sehr inspirierend, sie haben mir oft Gedanken und Handlungsanstöße gegeben. Und einige fachliche Themen, die ich in Rheinland-Pfalz angestoßen habe, sind Ergebnisse intensiver Diskussionen in der DGVT. Als Beispiel will ich nur den ersten Präventionskongress „Gesundheit fördern. Prävention stärken“ 2017 in Worms nennen. Dieser konnte letztlich nur organisiert werden, weil ich indirekt das große fachliche Netzwerk der DGVT zur Vorbereitung nutzen konnte. Und dieses große Netzwerk der DGVT, das wir ja nicht bewusst rein funktional aufgebaut und entwickelt haben, ist an vielen Orten präsent. So habe ich immer wieder während meiner beruflichen Arbeit Menschen bei Tagungen, Anhörungen und politischen Gesprächen wiedergetroffen, die ich auch über die DGVT kenne. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass die DGVT und ihre Ideen weiter wirken.
Steffen Fliegel: Das ist glaube ich auch ein wichtiger Punkt, den du sagst, dass die DGVT sich oft gar nicht so als Verband präsentiert hat oder als Verband Zeichen gesetzt hat, sondern dass die vielen Fachleute, die in der DGVT großgeworden sind, den Geist der DGVT weiter verbreitet haben. Über diese Fachleute hat die DGVT-Einfluss bewirkt. Und so hast du es auch in Bezug auf deine Person beschrieben hast, dass auch in deiner beruflichen Tätigkeit der Geist der DGVT immer irgendwie mitgeschwungen hat.
Bernhard Scholten: Genau. Ich glaube schon, dass ich wahrscheinlich politisch bestimmte Sachen anders gemacht hätte, wenn ich diesen Erfahrungshintergrund, dieses Erfahrungswissen und dieses Netzwerk nicht gehabt hätte.
Steffen Fliegel: Kannst du ein Beispiel nennen?
Bernhard Scholten: Gerne. im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes wurde die Unabhängige Teilhabeberatung eingeführt. Im Vorfeld stellte sich die Frage, was eigentlich unabhängige Teilhabeberatung bedeutet, wie kann sie aussehen. Und da ich wusste, dass Frank Nestmann und Annett Kupfer, die ich aus der DGVT kannte, in diesem Bereich arbeiteten, konnte ich sie fragen, ob sie nicht bereit wären, diese Frage vertiefend zu bearbeiten. Sie haben dann zu diesem Thema ein Symposium für den DGVT-Kongress organisiert, an dem auch Alfons Polczyk, der zuständige Referatsleiter im Bundesarbeitsministerium , teilgenommen hat. Ich glaube, diese fachliche Arbeit zeigt Wirkung, ohne dass das Label DGVT Auftaucht.
Steffen Fliegel: Insbesondere in den frühen Jahren der DGVT gab es noch viel Kontinuität durch einzelne Personen im Verband. Und es sind ja doch viele, die sich damals im Verband engagiert haben, auch lange dabei geblieben, du bist dafür ja ein gutes Beispiel. Und auch dafür, was es heißen kann, politische Bildung im Kontext der psychotherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Entwicklung zu machen, wo dann auch Psychotherapie eben mit Versorgung doch eng verknüpft wurde. Wenn du heute die DGVT siehst, siehst du da Veränderungen zu dieser Aufbruchsstimmung, die wir beide früher erlebt haben?
Bernhard Scholten: Also ich sehe auf jeden Fall eine Veränderung, eine Rückbesinnung auf die alten Zeiten. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass die DGVT voriges Jahr 50 Jahre alt geworden ist, und wir wieder darüber geredet haben, wie das eigentlich 1968 war. Aber es kann auch an dem gesellschaftspolitischen Klima liegen, dass wieder stärker die Frage nach einer guten Versorgung gestellt wird. In meiner Erinnerung wurden diese Versorgungsfragen im Vorfeld der politischen Debatten um das Psychotherapeutengesetz damals nicht gestellt. Damals standen Fragen nach einer guten Ausbildung im Vordergrund. Es wurden mit den Ausbildungszentren „aus dem Nichts heraus“ n neue Strukturen geschaffen. Eigentlich wollte die DGVT ja eine hochschulabgebundene Ausbildung. Das war der Ansatz mit der Fern-Universität Hagen. Herausgekommen ist ein Netz von privatwirtschaftlich organisierten Ausbildungszentren. Keine Frage: eine gute Ausbildung ist auch wichtig für eine gute Versorgung; dennoch standen damals die berufsrechtlichen und berufspolitischen Fragen im Vordergrund. Und jetzt bekomme ich durch meine Mitarbeit in der Fachgruppe psychosoziale Versorgung wieder mit, dass der DGVT-Vorstand und die Gremien wieder darüber nachdenken, ob die derzeitige Struktur eigentlich die „beste Versorgung aller Zeiten“ ist. Oder andersrum gesagt, viele fragen sich, was mache ich denn, wenn ich in (m)einer niedergelassenen Praxis auf einmal einen Menschen mit einem komplexen Störungsbild habe? Wenn ich merke, dass es notwendig und wichtig ist, dessen soziale Netzwerke zu nutzen. Gute Netzwerkarbeit kann aber nur multiprofessionell geleistet werden. Das sind Entwicklungen, die jetzt möglicherweise wieder stärker werden. Und: die DGVT und die Psychotherapie sind insgesamt weiblicher geworden. Frauen fordern andere Arbeitsmodelle und Arbeitszeiten ein. Sie sind nach meiner Wahrnehmung auch eher bereit sind, im Angestelltenverhältnis zu arbeiten. Sie wollen andere Arbeitsstrukturen und verändern damit auch die Versorgung. Wobei das eine These von mir ist…
Steffen Fliegel: ….dass wieder stärker überlegt wird, wie medizinische Versorgungszentren aussehen können, was früher mal mit Polikliniken diskutiert wurde. Es gab ja mal das Modell von Standardversorgungsgebieten…
Bernhard Scholten: ….. ja, wie Versorgung anders organisiert werden könnte, wie man auch eine Multiprofessionalität hinbekommt. Das hat gerade eine Kollegin, die niedergelassen ist, in der Fachgruppe Psychosoziale Versorgung ganz intensiv thematisiert. Sie brauche die Zusammenarbeit mit anderen, das ist in einer Einzelpraxis nur schwer möglich.
Steffen Fliegel: Ich würde gerne ein wenig von deiner Erfahrung profitieren. Es gab ja vor einigen Jahren eine groß angelegte Studie an der Uni Leipzig zur Wirksamkeit von Psychotherapie, die von Professor Brähler federführend geleitet wurde. Es wurde festgestellt, dass 60 bis 80 Prozent der Menschen mit psychischen Problemen von ambulanter Psychotherapie profitieren. Das heißt aber auch, dass 20 bis 40 Prozent nicht profitieren. Was könnten aus deiner Sicht Gründe sein für diese nicht-profitierenden 20 bis 40 Prozent, wenn wir mal die Erfahrung der TherapeutInnen bzw. die psychotherapeutischen Konzepte, die sicherlich auch mit von Bedeutung sind, unberücksichtigt lassen. Können noch andere Aspekte maßgeblich sein?
Bernhard Scholten: Also, ich weiß nicht, ob ich zur Beantwortung deiner Frage wirklich der Richtige bin, aber dafür meine Expertise reicht, denn ich habe mich in den letzten Jahren mit anderen Fragen befasst. Aber, wenn ich mich an meine Zeiten erinnere, in denen ich als Psychologe und Psychotherapeut in der Pfalzklinik gearbeitet habe, dann gab Menschen, die aufgrund einer psychischen Krise in die Klinik kamen, zum Teil nach einem Suizidversuch. Da war es eigentlich relativ gut möglich, mit einer kurzen psychotherapeutischen Intervention diese Menschen wieder „in die Spur zu bringen“ und sie dann auch gut in die Hände derer abzugeben, die in der ambulanten Versorgung mit ihnen weitergearbeitet haben. Und soweit ich noch Kontakt hatte, konnte ich sehen, dass sie sich auch wieder gut reintegriert haben. Vielleicht gehören diese Menschen zu den 20 bis 40 Prozent, die anfangs nicht von einer ambulanten Psychotherapie profitieren, sondern den „Umweg“ über die stationäre Behandlung machen müssen. Ichstelle mir weiter vor, , dass zu dieser Personengruppe auch Menschen gehören, die eine chronische Psychose entwickelt haben, also chronisch psychisch kranke Menschen. Für sie könnten die Behandlungsabstände zu lang sein; sie brauchen in einer Krise eine enge Begleitung.
Steffen Fliegel: Das würde bei bestimmten Patientinnen und Patienten ja die Notwendigkeit einer Kombination stationär-ambulant bedeuten. Hast du noch andere Gedanken zu einer besseren Wirksamkeit ambulanter Psychotherapie?
Bernhard Scholten: Klaus Dörner hat in seinem damaligen Interview mit dir davon gesprochen, dass es auch so etwas wie Neopsychisch-Kranke gibt. Also Kranke, die man früher gar nicht als psychisch krank bezeichnet hat. Die profitieren bestimmt von einer guten ambulanten Psychotherapie. Jemand, der eine schwere psychische Störung hat, zum Beispiel eine schizophrene Psychose, braucht neben dieser psychotherapeutischen Begleitung auch soziale Ankerpunkte, also Arbeit, oder zumindest eine klare Tagesstruktur, also Maßnahmen, die man in einer psychotherapeutischen Praxis nicht oder zumindest sehr schwer organisieren kann. Es fällt allerdings nach meiner Wahrnehmung heute immer noch schwer, dies von der Klinik heraus zu organisieren. In den 80iger und 90iger Jahren konnte jemand problemlos sechs, acht, zwölf Wochen in der Klinik bleiben, und die Klinik konnte diese Zeit nutzen, um im sozialen Feld vor Ort arbeiten. Ich bin damals auch als Psychologe oft rausgefahren und habe geschaut, wie die Situation vor Ort aussieht, um zu klären, woran man da anknüpfen kann. . Heute sind die gleichen Personen nur zehn oder zwölf Tage in der Klinik. Da ist es schwierig, Kontakt zum ambulanten Netz zu finden. Wenn aber die Übergänge nicht gut gestaltet werden, dann gehen diese Menschen manchmal schnell verloren, vor allem wenn sie sich passiv eher zurückziehen. Für diese Patientinnen und Patienten brauchen wir eine andere Versorgungsstruktur, also jemanden, der danach noch schauen kommt…
Steffen Fliegel: also keine Komm-Struktur der heutigen psychotherapeutischen Praxis mit einer Begleitung von einer Stunde pro Woche, sondern auch eine Gehstruktur für die, die eben nicht in die psychotherapeutische Praxis kommen, sondern wo wir als Behandlerinnen und Behandler vor Ort hingehen müssten, zumindest als Teil der Versorgung. Es ist ja sehr genau definiert, was ambulante Psychotherapie ist, und da gibt es wenig Spielräume für Übergänge zur psychosozialen Versorgung, das heißt also eben zur Sozialarbeit und anderen Angeboten. Wie würde deiner Meinung nach ein Versorgungsmodell aussehen, wo Patientinnen und Patienten mit ihrer Vielzahl von Behandlungsbedürfnissen gut aufgehoben wären?
Bernhard Scholten: Ich weiß nicht, ob es jetzt klug ist, das zu wiederholen, was wir Anfang der 1980er Jahre gefordert haben. Da haben wir als DGVT zusammen mit der DGSP oder mit der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) Szenarien entwickelt, wie man mit Ambulatorien, multiprofessionell bestückt, Versorgung gut gestalten kann. Ich finde die momentane Initiative der Aktion Psychisch Kranke (APK) gut, zu klären, was denn ganz praktisch durch relativ einfache gesetzliche Regelungen verbessert werden kann. Jemand, der in einer Einzelpraxis arbeitet, kann nicht aufsuchend arbeiten, eine Vernetzung mit anderen aus der psychosozialen Szene ist auch schwierig. So können sich Kinder- und Jugendpsychotherapeuten an einem Netz für Kinderschutz gar nicht beteiligen, oder sie müssten es ehrenamtlich außerhalb der Arbeitszeit machen, weil diese Arbeit nicht finanziert wird. In der Initiative der (APK) wird auch diskutiert, wie diese Netzwerkarbeit refinanzieren werden kann. Die DGVT hat dazu auch eine Stellungnahme verabschiedet. Sie ist in der VPP 2/2019 (S. 374-377) nachzulesen. Der Grundgedanke ist: wer in dieser Netzwerkarbeit tätig ist, erhält einen Bonus zu einer bestimmten Leistung . Und wer Kontakt zu seinen Patientinnen oder Patienten während eines Klinikaufenthaltes hält und nach dem Klinikaufenthalt weiterbehandelt, bekommt dies auch finanziell erstattet.
Steffen Fliegel: Leider ist ja unser Versorgungssystem gerade im psychosozialen und heilkundlichen Bereich so angelegt, dass jede Berufsgruppe ihre eigene Kammer oder ihre eigenen berufspolitischen Organisationen hat. Das trägt ja auch eher zu Abgrenzungen statt zu Kooperationen bei. Könntest du dir für die Zukunft Modelle oder Ansätze vorstellen, die die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen erleichtern könnten, vielleicht auch aus deiner beruflichen Tätigkeit und der politischen Arbeit?
Bernhard Scholten: Also, ich glaube, das ist ein dickes Brett. Spontan habe ich keine Fantasie, wie man hier kurzfristig etwas verändern kann. Denn die Berufsstände sind doch ziemlich klar umgrenzt und ziemlich zementiert. Letztlich kann dies eigentlich nur über eine gute Alltagsintegration und Alltagsarbeit gelingen. Wie man diese Versäulung der Berufe auflöst, da habe ich im Augenblick keine Fantasie.
Steffen Fliegel: Es gibt ja durchaus auf regionaler Ebene gute Kooperation zwischen den Berufsgruppen in den MVZ beispielsweise, die ja auch sehr stark an der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung beteiligt sind, da arbeiten verschiedene Berufsgruppen zusammen, das hat möglicherweise wieder andere Nachteile. Kannst du so aus deiner Erfahrung heraus regionale Beispiele benennen, wo Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen gut funktioniert?
Bernhard Scholten: Ich glaube, auf der regionalen Ebene oder auf der Arbeitsebene läuft vieles oft sehr gut. Wir haben in Rheinland-Pfalz Medizinische Versorgungszentren, die von Kommunen getragen werden, also von Verbandsgemeinden in den ländlichen Regionen wie jetzt im Westerwald , im Taunus oder auch im Hunsrück, wo im klassischen hausärztlichen Versorgungsbereich, die Angebote von Einzelpraxen zurückgehen. Dort entstehen Medizinische Versorgungszentren, in denen Ärzte und auch andere Heilberufe gemeinsam zusammenarbeiten und das läuft vor Ort wirklich gut…
Steffen Fliegel: Und wo es um ein Zusammen und nicht um ein Abgrenzen geht.
Bernhard Scholten: Diese Abgrenzungsdebatten sind oftmals keine Debatte zwischen Menschen, die in einer Stadt oder in einer Region oder in einer Institution zusammenarbeiten, sondern die Abgrenzungen beginnen erst auf der nächsten oder der dritthöheren Stufe. Das ist ein Strukturproblem, es geht um Macht und Einfluss. Wenn die Kassenärztliche Vereinigung ein Budget für Hausärzte, ein Budget für Psychotherapeuten und ein Budget für Fachärzte hat, entsteht, auch wenn es die Einzelnen gar nicht wollen, eine Konkurrenz, weil jeder meint, sein Budget sei zu klein und das der anderen zu groß. So entstehen auf der strukturellen Ebene Konflikte zwischen Anbietergruppen und dann zu einer Abgrenzung von „den anderen“ führt. Dann beklagen sich die Psychiaterinnen und Psychiater, wie ich es letztlich wieder mitbekommen habe, dass sie lange Zeit keine Budgetsteigerung hatten, während die Psychotherapeuten von diesen profitieren, weil sie gute berufsständische Politik gemacht haben und damit aus Sicht der Psychiaterinnen und Psychiater ein deutlich erhöhtes Budget durchsetzen konnten. Durch solche Strukturen entstehen natürlich nachvollziehbare Rivalitäten, die aber strukturell bedingt sind. In meiner Wahrnehmung spielen diese aber vor Ort in der konkreten Arbeit kaum keine Rolle.
Steffen Fliegel: Ich finde deine Erfahrungen, deine Gedanken, die du aus deiner beruflichen oder vielleicht auch Verbandsarbeit gezogen hast, sehr wichtig. Vielen Dank dafür, ich hoffe, dass das Viele lesen. Jetzt wollen wir aber wieder über dich reden. Magst du noch einmal beschreiben, was du genau in der Landesregierung Rheinland-Pfalz für Aufgaben gehabt hast?
Bernhard Scholten: Also, ich bin im Februar 1992 ins Sozialministerium gewechselt. Bis dahin, vielleicht ganz kurz in Stichworten, habe ich als Klinischer Psychologe, den Psychotherapeuten gab es damals noch nicht, auch wenn ich die Zertifizierung der DGVT als Psychotherapeut hatte, im klinisch-psychiatrischen Bereich gearbeitet Von 1987 bis 1992 war ich Personalratsvorsitzender der Klinik, war also auch gewerkschaftlich organisiert und engagiert in der ÖTV. Durch die DGVT entstanden Kontakte zu zwei Personen bei der damaligen ÖTV, nämlich Gerd Dielmann, der im Bereich der Ausbildung in den Gewerkschaften tätig war, und Detlef Platzeck, der später in die Landesverwaltung der Gewerkschaft ÖTV nach Mainz wechselte. Als die SPD-FDP-Regierung 1991 die Regierung in Rheinland-Pfalz übernahm, wurde der ÖTV-Bezirksvorsitzende Ulli Galle Sozialminister. Wir kannten uns gut, denn wir hatten, wie ich schon dargestellt habe, in den letzten Jahren vor dem Regierungswechsel in der ÖTV Rheinland-Pfalz Konzepte zur Reform der Psychiatrie in Rheinland-Pfalz erarbeitet. Im Winter 1991/92 fragte Ulli Galle dann: „Ja, und wer macht das jetzt?“ Und dann hat Detlef Platzeck, den ich gut kannte, gesagt: „Frag doch mal den Bernhard Scholten.“ Und so bin ich Psychiatriereferent von Rheinland-Pfalz geworden.
Steffen Fliegel: Das war ja ein toller Job, und das als Psychologe…
Bernhard Scholten: …bei dem ich mir erst sehr unsicher war, ob ich das überhaupt machen und leisten kann. Ich war zwei Wochen krank bevor ich mich für diese Arbeit entschieden habe. Gut, ich war dann von 1992 bis 2006 Psychiatriereferent, habe gemeinsam mit vielen anderen, also auch mit der Gewerkschaft ÖTV, die psychiatrische Landschaft in Rheinland-Pfalz deutlich verändert: die drei großen Kliniken in Andernach, Alzey und Klingenmünster wurden wirklich verkleinert, und zwar mit großer Unterstützung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Personalräten. Das glaube ich, war einmalig. Ich kann mich noch erinnern, dass Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als wir in Rheinland-Pfalz anfingen, über die Psychiatrie-Reform zu reden, die Kollegen der ÖTV im Landschaftsverband Rheinland mit schwarzen Anzügen und Särgen nach Köln-Deutz gezogen sind, um zu sagen: „Ihr vernichtet mit der Psychiatrie-Reform unsere Arbeitsplätze.“ In Rheinland-Pfalz haben wir zusammen gestanden und viele haben gesagt: „Wir wollen lieber ‚draußen‘ arbeiten.“ Also, das war eine ganz andere Stimmung in der Gewerkschaft.
Gut, das war so in den 1990er Jahren bis 2006. Dann war ich fünf Jahre Leiter der Abteilung Familie. In dieser Zeit war ich insbesondere für die Jugendhilfe zuständig. Da habe ich sehr viel profitiert von Leuten wie Bernd Röhrle und wie Heiner Keupp, weil all diese Dinge, die da angedacht waren, sich dann auch in der Jugendhilfe wiedergefunden haben. Und von 2011 bis zum Oktober 2017 war ich Leiter der Abteilung Soziales und Demografie. Diese Abteilung war für drei große Themen, nämlich für die Hilfen in besonderen Lebenslagen, für die Pflege und für die Behindertenpolitik zuständig. Und in den letzten beiden Themen, zumindest mal der Pflege und der Behindertenpolitik, spielen natürlich auch die DGVT-Themen, die wir in der Gemeindepsychologie diskutiert haben, Vernetzung, Multiprofessionalität, Beteiligung, Partizipation der Menschen mit Behinderungen, eine große Rolle. Und da haben mir die früheren Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen in der DGVT natürlich auch sehr geholfen, den politischen Diskurs inhaltlich zu gestalten.
Steffen Fliegel: Du bist ja auch ein gutes Beispiel dafür, wie breit die Psychologie, auch mit Schwerpunkt Klinische Psychologie, beruflich aufgestellt sein kann, wie man als Klinischer Psychologe durchaus sehr viel auch in politischen und versorgungspolitischen Bereichen bewirken und Einfluss nehmen kann. Die neue Gesetzesinitiative wird die Psychologie insgesamt sehr schwächen. Die Klinische Psychologie wird praktisch zur Psychotherapie, bekommt ein eigenes Studium. Und diejenigen, die Psychologie studieren wollen, haben nicht mehr die Möglichkeit, aus der Psychologie heraus zukünftig psychotherapeutisch arbeiten zu können. Das Grundlagenfach Psychologie wird sehr leiden. Siehst du das als eine kritische Entwicklung oder eine sinnvolle Entwicklung, die Psychotherapie zwar noch an die Psychologie anzulehnen, aber letztlich doch aus ihr herauszulösen?
Bernhard Scholten: Darüber habe ich noch nicht sehr intensiv nachgedacht. Das was ich jetzt sage, kommt mir spontan in den Sinn. Also, ich habe ja ganz am Anfang des Gespräches kurz skizziert, wie das bei mir war, als ich 1972 mit der Psychologiestudium anfing. Ich hatte eigentlich gedacht, ich das Psychologiestudium sein ein ein Psychotherapiestudium und ich würde mehr von der Psychoanalyse lernen. Nach den Experimentalpraktika 1 und 2 und nach den Kursen in Statistik 1 und 2 habe ich mich damals gefragt, warum mache ich das Ganze eigentlich. Erst im Hauptstudium habe ich begonnen, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teildisziplinen der Psychologie zu sehen und in der Diplomprüfung meinte ich, endlich die Zusammenhänge zu verstehen. Also: mir hat das breite Studium schon sehr geholfen hat, ein Grundverständnis psychologischer Entwicklung zu verstehen. Für mich ist die Klinische Psychologie Teil der Psychologie, sie setzt im klinischen Bereich, die Erkenntnisse der psychologischen Grundlagenforschung um.. Von daher fände ich es, jetzt spontan gesagt, schwierig, wenn man sofort mit einem Psychotherapeutenstudium anfängt und dieses Grundlagenwissen nicht erhält. Dazu gehören für mich auch die differenzierten Methoden der Psychologie, die empirische Arbeit, der Schatz der diagnostischen Arbeiten und auch quantitativen und qualitativen Forschungsstrategien. Ja auch die Statistik habe ich über die Jahre sehr schätzen gelernt – und ehrlich gesagt – war ich erschrocken darüber, dass meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen statistische Daten kaum richtig interpretieren konnten. Also ich kann es mir jetzt h gar nicht so richtig vorstellen, wie so ein Psychotherapeutenstudium dann aussehen soll. …
Steffen Fliegel: ….. das natürlich auch Teilbereiche anderer, grundlegender Studiengänge implementiert hat. Und die Hochschulen versprechen ja, dass es kein isolierter Psychotherapeut werden wird, sondern ein breit aufgestellter Psychotherapeut. Trotzdem fehlen der Psychotherapie grundlegende Fächer, insbesondere für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, wie Pädagogik, Soziale Arbeit, Sonderpädagogik oder eben auch aus der Psychologie, die bisher von dieser Breite profitiert hat. Und wenn ich unser eben geführtes Gespräch über Versorgung anschaue, wäre es wichtig, dass weiterhin kein eingeengter Blick wünschenswert wäre, sondern eben auch andere Bereiche wie Klinische Psychologie, Gemeindepsychologie, pädagogische Psychologie mit in den Blick genommen werden.
Bernhard Scholten: Natürlich, wenn man älter wird, verklärt sich die eigene Jugend und damit auch die Zeit der Ausbildung. Was ich gut fand, war das breite Grundlagenstudium. Also die Grundlagen der Psychologie zu haben, von denen ich als junger Mensch anfangs nicht überzeugt war, später aber, als ich die Vordiplomprüfung geschafft hatte, begriffen habe, wie wichtig dieses Grundwissen ist. Ich hatte damals in Bochum im Hauptdiplomstudiengang drei Schwerpunktfächer, Arbeits- und Organisationspsychologie, Klinische Psychologie und Sozialpsychologie, dabei war denn schnell klar, dass die klinische Psychologie mein Schwerpunkt wird. Ich habe dann darin viel mehr gemacht, als ich musste, es hat auch viel Spaß gemacht. Also von daher denke ich, dass das eigentlich die optimalere Lösung wäre, einen Bachelor in Allgemeiner Psychologie mit den Grundlagenfächer und dann einen Master-Studiengang in Psychotherapie.
Steffen Fliegel: Du hast ja auch studiermäßig auch noch anderweitig umgeschaut…
Bernhard Scholten: … Und neben der Psychologie auch noch Geschichtswissenschaften studiert. Das war für mich gut, nochmal einen ganz anderen Blick zu haben. Also wenn jemand tatsächlich nur Psychotherapie studiert, und keinen Blick für andere Fächer und Themen hat, dass dieser Mensch dann leicht einen engen „Psycho-Blick“ bekommt.
Steffen Fliegel: Die Gemeindepsychologie ist ja auch eng in der DGVT verankert, mit viel Bezug zur Sozialpsychiatrie. Warum ist es entweder der Gemeindepsychologie oder ihren Vertreterinnen und Vertretern nicht so gut gelungen, sich gemeinsam mit der Psychotherapie im Verband aufzustellen? Oder andersherum: warum wurde dieser Zweig nicht so sehr berücksichtigt, zum Beispiel in der Ausbildung? Im letzten Jahr ist ja diesbezüglich Kritik im Verband besonders laut geworden.
Bernhard Scholten: Die Kritik in Bezug auf die Ausbildungsbelange kann ich nicht bewerten, weil ich die Details, wie die Ausbildung in der DGVT ausschaut, nicht wirklich kenne. Aber ich kenne die Kritik natürlich, also zum Beispiel von Bernd Röhrle, Heiner Keupp und anderen, die nach dem letzten Kongress einen Offenen Brief[1] geschrieben haben. Sie haben auch kritisiert, dass die Themen „Prävention“ und „Versorgungsstrukturen“ in den Ausbildungscurricula der ABZ der DGVT viel zu wenig Gewicht haben. Meine These ist es, dass dies weniger etwas mit der DGVT zu tun hat, sondern mit den derzeitigen sozial-, gesundheits- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Ich denke schon, dass die DGVT, so wie ich sie wahrgenommen habe, immer wieder versucht hat, diese Themen zu platzieren. So hat die DGVT um die Jahrtausendwende vergeblich versucht, die Beratungsweiterbildung als zweites Ausbildungsangebot neben der Psychotherapie zu implementieren. Dieser Versuch, die Beratung durch eine gute Ausbildung zu professionalisieren, ist der DGVT nicht gelungen. Aber in der gesellschaftspolitischen Debatte wurden Versorgungsfragen vor allem unter finanziellen Aspekten diskutiert und beantwortet. Das beste Beispiel dafür ist für mich das Präventionsgesetz. Das Präventionsgesetz wird seit den 90iger Jahren diskutiert, es wurde immer mal wieder vorgelegt, ist, wenn ich mich richtig erinnere, insgesamt dreimal im Bundestag gescheitert, weil es am Ende der jeweiligen Legislaturperiode nicht verabschiedet war, Und das, was jetzt rausgekommen ist, ist eigentlich kein Präventionsgesetz. In Sonntagsreden wird oft die Notwendigkeit und Wichtigkeit von Prävention und Gesundheitsförderung beschworen, doch im politischen Alltag sind andere Fragen bedeutsamer. Und Prävention wird von den Krankenkassen als Wettbewerbsinstrument genutzt statt für eine strukturelle Prävention.
Steffen Fliegel: Ist ja wie beim Thema „Klima“, betrifft nicht direkt, also sind andere Themen vorrangig. Aber hätte nicht die DGVT da mehr tun können? Nicht beim Klima, bei der Prävention…
Bernhard Scholten: …… da ist die DGVT als Gesellschaft politisch viel zu schwach, um so dieses Thema zu pushen. Wenn man es ernsthaft pushen wollte, muss man dieses Thema strategisch besetzen. Dazu gehören neben eine inhaltlichen Positionierung auch die Klärung der Frage, wer kann Bündnispartner sein? Vielleicht sind es die Gewerkschaften, vielleicht auch noch andere Fachverbände, aber es braucht eine langfristige politische Strategie, um dieses Thema erneut auf die politische Agenda zu bekommen.
Steffen Fliegel: Zumal ja viel getan worden ist, die Arbeitsfelder, wo Beratung stattfinden könnte, deutlich zu reduzieren, es gibt ja kaum mehr Beratungsstellen. Als wir beide beruflich groß geworden sind, gab es ja in jeder Stadt sehr unterschiedliche und vielfältige Beratungsangebote, die zum Teil kirchlich, zum Teil kommunal, zum Teil von Initiativen, Projekten oder Verbänden getragen wurden. Viele davon sind aus finanziellen Gründen weitgehend verschwunden aus der psychosozialen Versorgung. In das Psychotherapeutengesetz der Zukunft ist ja als Tätigkeitsfeld von Psychotherapeuten die Prävention jetzt aufgenommen worden. Was müsste denn jetzt konkret passieren, damit das auch in die Praxis umgesetzt werden kann, zum Beispiel auch in der psychotherapeutischen Ausbildung angesiedelt werden kann.
Bernhard Scholten: Ich würde zu beiden Aspekte etwas sagen. Dass die Beratungsangebote abgebaut sind, würde ich, zumindest mal flächendeckend, nicht unterschreiben. Zumindest sind in Rheinland-Pfalz die Beratungsangebote nicht geringer geworden. In Rheinland-Pfalz werden die klassischen Beratungsangebote wie jetzt Ehe-, Lebens- und Familienberatung, Erziehungsberatung, Schwangeren- und Konfliktberatung, Schuldner- oder Suchtberatung im gleichen Maß wie vor zehn oder zwanzig Jahren von der Landesregierung gefördert.. Und die Fördermittel wurden immer der Kostenentwicklung angepasst. Die Arbeit in den Beratungsstellen hat sich über die Jahre verändert, weil es außerhalb der Beratungsstrukturen neue Angebote wie den psychotherapeutischen Bereich, die Logopädie, die Ergotherapie gibt. Allerdings stimmt, dass die Beratungsangebote nicht alle Menschen erreicht, sondern sie ist eher mittelschichtsorientiert. Eine aufsuchende und am Sozialraum orientierte Beratung ist eher die Ausnahme.
Steffen Fliegel: Und zur Prävention im Psychotherapeutengesetz der Zukunft?
Bernhard Scholten: Da ist die Frage, wie kann man psychotherapeutisch verstärkt präventiv arbeiten? Ich kann mir das spontan nur sehr schwer vorstellen, dass niedergelassene Psychotherapeutinnen in ihrer Einzelpraxis auch noch präventive Arbeit leisten können. Denn präventive Arbeit heißt ja, ich muss mit Menschen arbeiten, die noch nicht belastet sind. Also, ich kann Personengruppen definieren, die ein höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken. Sehr intensiv wird über die Belastung Kinder psychisch kranker Eltern oder Kinder von Eltern mit Suchterfahrung diskutiert. Für diesen Personenkreis gibt es auch erste präventive Ansätze, wobei ich diese sehr viel stärker als eine Aufgabe der Jugendhilfe und der Suchtberatungsstellen ansehe. In Rheinland-Pfalz, gibt beispielsweise das Projekt „Familientische“, die von Professionellen aus den Suchtberatungsstellen geleitet werden und bei denen die Belastungen der Kinder zur Sprache kommen. Sie wirken im kleinen Kreis sehr gut. Sicher kann diese Arbeit auch von einer niedergelassenen Psychotherapeutin geleistet werden, fachlich müsste sie mit einer entsprechenden Fortbildung dazu in der Lage sein, aber die Strukturen der Niederlassung passen nicht zu diesem eher multiprofessionell besetzten Arbeitsfeld.
Steffen Fliegel: Das müsste ja auch finanziert werden. Bisher werden ja Einzelleistungen finanziert von den Krankenkassen. Aber das muss ja jetzt nicht nur eine Tätigkeitserweiterung von Niedergelassenen sein, es kann ja auch eine Tätigkeitserweiterung von Institutionen wie Kliniken und so weiter sein.
Bernhard Scholten: Ja, wer könnte diese Leistungen noch erbringen, Institutsambulanzen, Medizinische Versorgungszentren, Kliniken, aber die auch im ambulanten Bereich arbeiten? Denn stationäre Prävention funktioniert nicht, kann ich mir nicht vorstellen. Mir fällt dazu ein, dass es neben der Einzelleistungsabrechnung im SGB V auch Modelle gibt, wie die Krankenkassen Systeme finanzieren. Zum Beispiel gibt es die ambulanten Hospizdienste. Da arbeiten viele Ehrenamtliche, die von Krankenschwestern mit Palliativpflege-Erfahrung angeleitet werden Diese Arbeit finanzieren die Krankenkassen durch einen Zuschuss, der pauschal an die ambulante Hospizdienste geht. Und mit diesem Zuschuss werden die Professionellen finanziert, die die Ehrenamtlichen anleiten, um Menschen oder deren Angehörige zu begleiten. Also, es gibt im SGB V Finanzierungsmodelle , somit gibt es neben der Einzelleistungsabrechnung auch andere Finanzierungsformen. Und man müsste jetzt im nächsten Schritt überlegen, wie kann diese Finanzierungsmodelle aus anderen Bereichen wie aus der ambulanten Hospizarbeit im Präventionsbereich nachbilden.
Steffen Fliegel: Wer wäre denn in der DGVT zuständig, Präventionskonzepte zum Beispiel in die Aus- und Weiterbildung zu implementieren?
Bernhard Scholten: Unser gemeinsamer Freund Bernd Röhrle hat ja zur Prävention enorm viel geforscht, hat ja dazu auch ein Network for Mental Health gegründet, was ja sehr präventiv ausgerichtet ist. Und dieses Erfahrungswissen, was es da gibt, kann man sicherlich nutzen, um so ein Curriculum zu entwickeln. Auf jeden Fall denke ich, die Psychologie hat da entscheidendes Wissen und könnte sich da engagieren.
Steffen Fliegel: Die DGVT hat sich für diesen Bereich auch satzungsmäßig aufgestellt und, wie schon gesagt, sich immer wieder sicherlich auch sehr vergeblich und frustriert eingebracht. Es könnte jetzt tatsächlich eine Chance sein, diese bestehenden Konzepte für Ausbildungsbelange aufzubereiten.
Bernhard Scholten: Also, ein sehr praktisches Beispiel: in dieser Aktion Psychisch Kranker haben wir auch darüber diskutiert, ob es nicht eine Leistung für Angehörige chronisch kranker Menschen, psychisch kranker Menschen, aber auch Menschen mit anderer chronischer Erkrankungen, geben könnte, bei dem Angehörige ein Beratungsangebot erhalten, um für sich zu verstehen, wie sie mit der Situation, einen psychisch/chronisch erkrankten Angehörigen zu haben, umgehen können ohne selbst psychisch zu erkranken? Dieses Angebot ist präventiv gedacht, denn es sollte eingesetzt werden, bevor der oder die Angehörige ein Burnout bekommt. Die Entwicklung eines solchen Beratungskonzeptes könnte beispielsweise vom Forum Beratung übernommen werden.
Steffen Fliegel: Das wäre ja durchaus auch eine Möglichkeit für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in der freien Praxis, die dann durchaus präventiv arbeiten könnten, denn sie werden ja konfrontiert mit Angehörigen psychisch kranker Menschen. Und wenn wir jetzt Möglichkeiten finden, dass diese Arbeit auch finanziert wird…
Bernhard, gibt es noch irgendetwas, was du als erfahrener DGVTler, der ja auch ein bisschen im Rückzug begriffen ist, deiner DGVT für die Zukunft wünschen würdest…? Ich sage bewusst nicht, „mit auf den weiteren Weg geben möchtest“, das hört sich so pädagogisch an, also was du ihr wünschen würdest?
Bernhard Scholten: Also, was ich mir wünschen würde, sind eigentlich zwei Punkte. Einmal, weil du gerade sagst, dass ich ja auch auf dem Rückzug bin, da geht dir ja dann wahrscheinlich ähnlich. Ich glaube, wir müssten noch mal irgendwie eine gute Form finden, wie das Wissen, dein Wissen, mein Wissen, das Wissen von Heiner Keupp, Bernd Röhrle, Jarg Bergold, Waltraud Deubert, Monika Bormann und vielen anderen, die ich jetzt hier nicht alle namentlich erwähnen kann, den jungen Kolleginnen und Kollegen zugänglich machen und weitergeben können. Ich habe mir die sozialpolitischen Strukturen im Laufe meiner DGVT-Vorstandsarbeit durch praktisches Tun angeeignet. Das ist natürlich eine Möglichkeit, das kann man so machen. Man könnte aber auch von den Erfahrungen profitieren, die jetzt die Älteren haben. Nicht weil wir immer alles besser wissen, das fände ich schlecht. Sondern weil wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben, die wir weitergeben können.
Steffen Fliegel: Das finde ich eine sehr schöne Idee. Vielleicht noch einmal eine Art Round-Table zu machen, wie wir jetzt das Gespräch zu zweit führen, noch einmal ein Gespräch mit mehreren wichtigen Menschen aus der DGVT führen im Sinne von „Wissen weitergeben“. Einfach Angebote machen, und dann können die nachfolgenden Generationen ja schauen, was sie davon nehmen können und wie sie davon profitieren können.
Bernhard Scholten: Genau. Und das zweite, was ich mir wünsche, ist, dass die DGVT noch einmal eine strategische Planung entwickelt: Also für sich selbst klärt, was wollen wir politisch langfristig erreichen. Nicht unbedingt diese riesengroßen Ziele, die wir damals in den 1980er Jahren formuliert haben, eher „drei Stufen“ tiefer und damit realistischer. Manches worüber wir gerade gesprochen haben: Prävention konkret, Öffnung der Niederlassung, bessere Nutzung der Medizinischen Versorgungszentren und der Integrierten Versorgung, Versorgungsverträge und so weiter. zur Strategie gehören dann auch Fragen zu beantworten wie: mit wem können wir das machen. Kann man das noch mal so machen wie damals mit der Plattform aus den drei Verbänden? Oder gibt es andere Bündnispartner? Und dann wäre zu klären, welche Kapazitäten und Ressourcen vorhanden sind bzw. wie wichtig sind die Themen und welche Ressourcen kann die DGVT investieren? Dann ist zu klären, welches Wissen und Kompetenzen stehen der DGVT zur Verfügung, und natürlich: wer in der DGVT steht für diese Ziele? Damit kann auch der Kritik begegnet werden, im täglichen „Klein-Klein“ des Alltags die „großen Linien“ aus dem Auge zu verlieren.
Steffen Fliegel: Ja, das wäre Klasse, so eine strategische Planung erst verbandsintern und dann mit Bündnispartnern zu machen. Es wäre gut…
Bernhard Scholten: … wenn sich die DGVT so für die nächsten fünfzig Jahre aufstellen könnte.
Steffen Fliegel: Lieber Bernhard, auch wenn dies ein Gespräch war, das mich an viele alte Zeiten und Diskussionen erinnert hat, manchmal ein wenig wehmütig, vor allem aber hoffnungsvoll, weil es viele aktuelle Themen berührt hat. Ich bin sehr glücklich, dass ich dich damals in Bochum kennenlernen durfte. Dein beruflicher Weg hat mich wirklich sehr beeindruckt. Danke, dass du mich und uns daran hast teilhaben lassen. Alles Gute für deine Zukunft und die deiner Familie. Herzlichen Dank für das beeindruckende Gespräch.
[1] Vgl. VPP 3/2018, S.
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